150 Jahre SPD: Worauf die Sozialdemokraten stolz sein können

Veröffentlicht am 22.05.2013 in Allgemein

Quelle: Spiegel.de

In 150 Jahren hat die SPD manchen Fehler gemacht - aber auch viel geleistet: Die Genossen verteidigten die Weimarer Republik, wehrten sich gegen die Nazis, halfen bei der Gründung der Bundesrepublik und setzten wichtige Reformen durch. Eine kritische Würdigung des Historikers Heinrich August Winkler.

Die deutsche Sozialdemokratie war 36 Jahre alt und erst seit neun Jahren frei von den Fesseln der Sozialistengesetze des Reichskanzlers Bismarck, als der Erzrevisionist und Marx-Kritiker Eduard Bernstein 1899 seine Schrift "Die Voraussetzungen des Sozialismus" vorlegte. Darin erklärte er eine Reihe von Grundannahmen von Karl Marx wie die vom unweigerlichen Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft, von der Zuspitzung der gesellschaftlichen Gegensätze, vom Untergang des Kleinbetriebs und vom Verschwinden der Mittelschichten, also die gesamte Marxsche "Katastrophentheorie", für historisch widerlegt.

Von seiner Partei, der SPD, behauptete Bernstein, die Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheit habe ihr stets höher gestanden als die Erfüllung eines wirtschaftlichen Postulats. Ihr Einfluss würde denn auch ein sehr viel größerer sein, wenn sie den Mut fände, "sich von einer Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei".

Die Parteiführung um August Bebel reagierte empört. Die proletarische Revolution, wie Karl Marx sie erwartet hatte, spielte in ihrem Denken zwar kaum noch eine Rolle. Aber jede Distanzierung vom Gründervater des "Wissenschaftlichen Sozialismus" bedeutete für sie einen Versuch, schlafende Hunde zu wecken, und hatte daher zu unterbleiben. An den Chefideologen Karl Kautsky, von dem das Wort stammt, die SPD sei "eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei", erging daher der Auftrag, Bernsteins Kritik an Marx theoretisch zu widerlegen. Und selbst einer der politischen Freunde des Gescholtenen, der bayerische Reformist Ignaz Auer, meinte: "Mein lieber Ede, das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas tut man."

Einsames Nein zu Hitlers Ermächtigungsgesetz

Als rund zwei Jahrzehnte später, im November 1918, in Deutschland von der SPD ungewollt die Revolution ausbrach, zeigte sich rasch, dass Bernstein 1899 richtiggelegen hatte. Was immer man Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und ihren Freunden an Versäumnissen und Fehlentscheidungen vorhalten kann, im wichtigsten aller Punkte hatten sie recht: Um aus Deutschland eine Demokratie zu machen, mussten die gemäßigten Kräfte der Arbeiterschaft und des Bürgertums zusammenarbeiten. Es galt also, mit dem Dogma des Klassenkampfs zu brechen und Koalitionspolitik zu betreiben. Hätte die SPD sich dieser Einsicht verschlossen, wäre die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, gar nicht erst zustande gekommen.

 

Die Sozialdemokratie war die Staatspartei der Republik von Weimar, und sie war es auf paradoxe Weise zu keiner Zeit mehr als in den Jahren nach 1930, als dieser Staat weniger denn je der ihre war. Im Sommer 1931 sprach ihr Vordenker Rudolf Hilferding von einer "tragischen Situation" seiner Partei: "Die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehrheit, die die Demokratie verwirft, und das mit den politischen Mitteln einer demokratischen Verfassung, die das Funktionieren des Parlamentarismus voraussetzt, das ist fast die Quadratur des Kreises, die da der SPD als Aufgabe gestellt wird - eine wirklich noch nicht dagewesene Situation."

Die Demokratie von Weimar ist gescheitert, weil der SPD die bürgerlichen Partner zunehmend abhandenkamen. Das einsame Nein der Sozialdemokraten zu Hitlers Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 war der Abschluss dieser Entwicklung. 16 Jahre später, 1949, wurde nicht die SPD sondern die CDU, die Erbin des katholischen Zentrums und mehrerer kleinerer und größerer konservativer Parteien, zur eigentlichen Staatsgründungspartei der zweiten deutschen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland.

Trennung von ideologischem Ballast

 

Doch die Sozialdemokraten hatten einen markanten Anteil daran, dass es zur Entstehung des westdeutschen Staates kam. Hätte ihr erster Nachkriegsvorsitzender, Kurt Schumacher, nicht Nein gesagt zum Zusammenschluss mit den Kommunisten, wäre der Verlauf der Geschichte ein völlig anderer gewesen. Die Ablehnung der Fusion vertiefte den Gegensatz zwischen den Westzonen und der Sowjetischen Besatzungszone. Aber so leidenschaftlich Schumacher die Einheit Deutschlands wollte, die Freiheit war für ihn das höhere Gut.

Ein Jahrzehnt nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland trennte sich die SPD auf ihrem Godesberger Parteitag im November 1959 von dem ideologischen Ballast ihres marxistischen Erbes und wagte im Sinne Bernsteins zu scheinen, was sie längst war: eine Partei der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen. Um ihre Regierungsfähigkeit zu beweisen, stellte sich die SPD im Jahr nach Godesberg durch Herbert Wehners legendäre Bundestagsrede vom 30. Juni 1960 auf den Boden von Adenauers Westverträgen: einer Politik, die sie zuvor scharf bekämpft hatte.

Die Anerkennung der Westpolitik war notwendig, wenn die Sozialdemokraten Ernst machen wollten mit ihrer Forderung nach einer neuen, den Realitäten Rechnung tragenden Ostpolitik. Diese Politik begann mit dem Berliner Passierscheinabkommen von 1963 und führte, nachdem Willy Brandt 1969 an der Spitze einer sozialliberalen Koalition Bundeskanzler geworden war, über den Moskauer und den WarschauerVertrag sowie das Viermächteabkommen über Berlin zum deutsch-deutschen Grundlagenvertrag von 1973.

Höhepunkt der sozialliberalen Ostpolitik

 

Die Helsinki-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975, in deren "Körben" auch die Menschenrechte ihren Platz fanden, war der krönende Höhepunkt der sozialliberalen Ostpolitik. Auf das, was die Regierungen des Ostblocks in der finnischen Hauptstadt unterzeichnet hatten, konnten sich fortan Menschenrechtsaktivisten in Moskau, Prag, Warschau und Ost-Berlin berufen, aber sie taten es nicht immer zum Wohlgefallen der SPD.

Der Architekt der Bonner Ostpolitik, Egon Bahr, hatte 1963 die Parole "Wandel durch Annäherung" ausgegeben. In den achtziger Jahren, in der sogenannten "zweiten Phase der Ostpolitik", wurde daraus "Annäherung ohne Wandel" (so Jörg Lau und Matthias Geis in der "Zeit" vom 9. Mai). Um die "menschlichen Erleichterungen" im geteilten Deutschland nicht zu gefährden, räumten Brandt, Bahr und andere führende Sozialdemokraten der Stabilität in Ostmitteleuropa den Rang des höchsten Gutes ein. Demgegenüber hatten alle anderen Ziele, auch der Ruf nach mehr Freiheit in den kommunistisch regierten Staaten, zurückzutreten.

Das Nachsehen hatten Freiheitsbewegungen wie die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc in Polen: Sie fühlten sich als Störenfriede der Entspannung ausgegrenzt. Doch die Stabilität, auf die die SPD setzte, war brüchig. Die westlichen Freiheitsideen entwickelten eine Dynamik, die der sozialdemokratischen Variante von "Realpolitik" den Boden entzog. 1989 erwiesen sich, so der britische Publizist und Historiker Timothy Garton Ash, die "selbsternannten Realisten als unrealistisch…, und die Idealisten standen als die besseren Realisten da".

Mut zu einem gesellschaftspolitischen Befreiungsschlag

 

14 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hatte der dritte sozialdemokratische Bundeskanzler (und der erste seit derWiedervereinigung Deutschlands), Gerhard Schröder, den Mut zu einem gesellschaftspolitischen Befreiungsschlag, der Agenda 2010. Was immer der Agenda fehlte und was es zu korrigieren gilt: Ohne diese tiefgreifende Reform des Sozialstaats stünde Deutschland heute sehr viel schlechter da. Schröder hatte, ganz im Sinne Bernsteins, begriffen, dass gesellschaftlicher Fortschritt die ständige Bereitschaft zur Selbstrevision verlangt.

Die niederländischen Sozialdemokraten unter Wim Kok waren schon einige Jahre früher als die deutschen zu der Erkenntnis gelangt, dass der Sozialstaat auf Sand gebaut war, wenn die Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit verlor. Andere ehemalige Arbeiterparteien haben da noch Lernprozesse vor sich. Das gilt auch für die französischen Sozialisten, in deren Geschichte es kein "Godesberg" gibt und die stets Wert darauf legten, nicht als "Sozialdemokraten" oder "Reformisten" verschrien zu werden.

Auf andere europäische Staaten lässt sich die Agenda 2010 gewiss nicht eins zu eins übertragen. Aber ihre Grundgedanken bleiben über Deutschland hinaus aktuell. Der Euro wird sich nicht dauerhaft stabilisieren lassen, wenn einige Länder sich überfälligen Strukturreformen verweigern. Wer europäische Solidarität fordert, muss sich um Solidität im eigenen Lande bemühen.

 

Aus der 150-jährigen Geschichte der SPD, ihren Leistungen wie ihren Fehlern, lässt sich vieles lernen und das mitunter auch außerhalb der deutschen Grenzen. Das Wort "Erst das Land, dann die Partei", die Devise aller sozialdemokratischen Bundeskanzler, mag sehr deutsch klingen, aber es bleibt trotzdem richtig. Es steht für eine Haltung, für die sich die Sozialdemokraten nicht zu entschuldigen brauchen.

Sie könnten sogar ein wenig stolz darauf sein.