Schulpolitischer Konsens für Nordrhein-Westfalen

Veröffentlicht am 19.07.2011 in Schule und Bildung

Gemeinsame Leitlinien von CDU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN
für die Gestaltung des Schulsystems in Nordrhein-Westfalen

Düsseldorf, 19. Juli 2011

CDU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN in Nordrhein-Westfalen vereinbaren folgende
Leitlinien für die Gestaltung des Schulsystems in Nordrhein-Westfalen:

1. Im Mittelpunkt unserer Schulpolitik stehen die Kinder und Jugendlichen, nicht Strukturen.
Um der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler, ihren Talenten und Begabungen
gerecht zu werden, muss die individuelle Förderung als pädagogisches Grundprinzip
im Unterricht systematisch verankert werden. Die Leistungspotenziale unserer Kinder
müssen besser entwickelt werden, die (soziale) Herkunft darf dabei keine Rolle spielen.
Wir wollen, dass unsere Kinder und Jugendlichen mehr lernen und optimal gefördert
werden, das gilt für berufsqualifizierende Bildungsgänge genauso wie für solche,
die die Hochschulreife als Ziel haben. Dabei soll kein Kind überfordert, aber
auch kein Kind unterfordert werden.

2. Ziel ist ein Schulsystem im Bereich der allgemeinbildenden weiterführenden Schulen,
das der Verschiedenheit der Kinder und Jugendlichen gerecht wird:
· vielfältig – hinsichtlich der Bildungsgänge;
· umfassend und regional ausgewogen – hinsichtlich der Erreichbarkeit für die
Schülerinnen und Schüler sowie der Bedeutung von Schule als Standortfaktor
für die Kommunen, die Eltern und die örtliche Wirtschaft.

3. Der Schülerrückgang und das veränderte Elternwahlverhalten zwingen zu Veränderungen
der Schulstruktur. Trotz guter Arbeit wird die Hauptschule vielfach nicht mehr
angenommen. Sie spiegelt daher den Verfassungsanspruch nicht mehr wider. Die
Hauptschulgarantie der Verfassung wird daher gestrichen. Stattdessen wird eingefügt:
„Das Land gewährleistet in allen Landesteilen ein ausreichendes und vielfältiges
öffentliches Bildungs- und Schulwesen, das ein gegliedertes Schulsystem, integrierte
Schulformen sowie weitere andere Schulformen umfasst.“
Von Landesseite wird keine Schulform abgeschafft.

4. Das Schulangebot in NRW soll zukünftig bestehen aus:
· Grundschule
· Gymnasium
· Realschule
· Hauptschule
· Sekundarschule
· Gesamtschule
· Berufskollegs mit allgemeinbildenden und berufsbildenden Bildungsgängen
· Weiterbildungskollegs sowie
· Förderschulen, soweit sie trotz Inklusion erforderlich sind.

5. Eckpunkte der neu zu schaffenden Sekundarschule sind:

· Als Schule der Sekundarstufe I umfasst sie die Jahrgänge 5 bis 10.

· Sie ist mindestens dreizügig. Horizontale Teilstandortbildungen sind möglich.
Bei vertikalen Lösungen kann der Teilstandort einer mindestens dreizügigen
Stammschule zweizügig geführt werden, wenn damit das letzte weiterführende
Schulangebot einer Gemeinde gesichert wird. Weitere Ausnahmen bei vertikalen
Lösungen sind in begründeten Einzelfällen möglich, wenn das fachliche Angebot
und die Qualitätsstandards nicht eingeschränkt werden.

· Der – in der Regel 9-jährige – Bildungsgang zum Abitur wird durch verbindliche
Kooperation/en mit der gymnasialen Oberstufe eines Gymnasiums, einer Gesamtschule
oder eines Berufskollegs gesichert. Wenn der Bedarf für eine mindestens
vierzügige integrierte Schule mit einer eigenen gymnasialen Oberstufe
besteht, ist eine Gesamtschule zu gründen, für deren Errichtungsgröße der
Wert 25 Kinder pro Klasse gilt.

· Die Sekundarschule bereitet Schülerinnen und Schüler sowohl auf die berufliche
Ausbildung als auch auf die Hochschulreife vor. Die neu zu entwickelnden Lehrpläne
orientieren sich an denen der Gesamtschule und der Realschule. Dadurch
werden auch gymnasiale Standards gesichert.

· In den Jahrgängen 5 und 6 wird gemeinschaftlich und differenzierend zusammen
gelernt, um der Vielfalt der Talente und Begabungen der Schülerinnen und
Schüler gerecht zu werden.

· Ab dem 7. Jahrgang kann der Unterricht auf der Grundlage des Beschlusses
des Schulträgers unter enger Beteiligung der Schulkonferenz integriert, teilintegriert
oder in mindestens zwei getrennten Bildungsgängen (kooperativ) erfolgen.

· Die zweite Fremdsprache im 6. Jahrgang wird fakultativ angeboten; ein weiteres
Angebot einer zweiten Fremdsprache ab Jahrgang 8 sichert die Anschlussfähigkeit
für das Abitur.

· Der Klassenfrequenzrichtwert beträgt 25.

· Die Lehrkräfte unterrichten 25,5 Lehrerwochenstunden.

· Die Sekundarschule wird in der Regel als Ganztagsschule geführt, und zwar mit
einem Zuschlag von 20 Prozent.

6. Die Gründung einer Sekundarschule, die in der Regel aus der Zusammenführung
verschiedener Schulformen erfolgt, ist möglich, wenn hierfür ein Bedürfnis besteht
(Schülerzahlentwicklung und Befragung der Grundschuleltern). Sekundarschulen
können auch durch den Zusammenschluss von Schulen benachbarter Schulträger
entstehen. Die Sekundarschule wird vom kommunalen Schulträger unter Einbindung
der Schulkonferenzen und in Abstimmung mit ggf. betroffenen benachbarten kommunalen
Schulträgern beschlossen. Die Regelungen zur Findung eines regionalen
Konsenses orientieren sich am Modell des Städte- und Gemeindebundes NRW. Die
kommunalen Schulträger und die Träger von privaten Ersatzschulen informieren sich
gegenseitig über ihre Planung.

7. Die 12 Gemeinschaftsschulen, die zum Schuljahr 2011/2012 starten, werden rechtlich
für den ursprünglich vorgesehenen Versuchszeitraum abgesichert und danach
unter Wahrung ihrer Struktur in das Regelschulsystem überführt. Sie können auch
vorzeitig eine Umwandlung beantragen. Da seitens einzelner Kommunen und Schulen
ein Verbund von Grundschulen und Schulformen der Sekundarstufe I gewünscht
wird, sollte dies im Rahmen eines begrenzten Schulversuchs ermöglicht werden. Dabei
muss sichergestellt werden, dass nach Abschluss der Grundschulzeit zu jeder
anderen weiterführenden Schule gewechselt werden kann. Alle Neuerungen zur Weiterentwicklung der Schulstruktur werden wissenschaftlich begleitet.

8. Unser Ziel ist die Sicherung eines wohnortnahen und qualitativ hochwertigen Schulangebots
in Nordrhein-Westfalen als großem Flächenland mit einem deutlichen
Stadt-Land-Gefälle. Hierzu bedarf es differenzierter Lösungen, die sich für den Primarbereich
anders darstellen als für die Schulen der Sekundarstufe I und II, für den
ländlichen Raum anders als für Ballungsräume. Um dem Prinzip „Kurze Beine – Kurze
Wege“ Rechnung zu tragen, wollen wir kleine wohnortnahe Grundschulstandorte
möglichst erhalten, auch durch die Intensivierung von Teilstandorten. Dies erfordert
pädagogisch-innovative Konzepte wie z.B. jahrgangsübergreifendes Lernen, damit
die Fachlichkeit und der effektive Mitteleinsatz gewahrt bleiben.

9. In einem Stufenplan werden für Realschule, Gymnasium und Gesamtschule die
Klassenfrequenzrichtwerte schrittweise von 28 auf 26 gesenkt, für die Grundschule
schrittweise auf 22,5.

10. Ergänzend zur Grundstellenzuweisung sollen kriteriengeleitete Ansätze wie der Sozialindex,
die Integrationsstellen und zukünftig ein Inklusionsindex ausgebaut und aktualisiert
werden. Sie kommen gleichermaßen allen Schulformen zu Gute, je nachdem
in welchem Maße die einzelne Schule sich der jeweiligen Herausforderung annimmt
bzw. durch die Zusammensetzung der Schülerschaft von ihr betroffen ist. Mit
diesen Budgets sollen die Schulen möglichst flexibel arbeiten können.
Im Zuge der Weiterentwicklung aller Schulen zu Ganztagsschulen und zu inklusiven
Schulen ist auch der Schüleransatz im Gemeindefinanzierungsgesetz zu überprüfen
und möglichst zeitnah anzugleichen.

11. Der Prozess zur inklusiven Schule, den CDU, SPD und Grüne mit ihrem gemeinsamen
Antrag vom Dezember letzten Jahres eingeleitet haben, wird fortgesetzt. Hieraus
erwachsender gesetzlicher Regelungsbedarf kann ggf. zu einem späteren Zeitpunkt
mit dem Gesetzgebungsverfahren zur Weiterentwicklung der Schulstruktur verbunden
werden.

12. Die Realisierung der finanzrelevanten Maßnahmen kann in dem Maße erfolgen, in
dem Ressourcen durch zurückgehende Schülerzahlen frei werden (demografische
Effekte).

Diese Leitlinien bilden die Grundlagen für eine gemeinsame Schulgesetznovelle der Fraktionen von CDU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Landtag von Nordrhein-
Westfalen.
Sie werden für den Zeitraum bis 2023 verabredet und nicht einseitig aufgekündigt.

Düsseldorf, den 19. Juli 2011