Chance vertan

Veröffentlicht am 04.10.2011 in Wahlen

Überhangmandate bleiben trotz Wahlrechtsreform

Von Wolfgang Janisch, Süddeutsche Zeitung

Am Donnerstag hat die Bundesregierung ein neues Wahlrecht beschlossen. Mit der Reform hätte die Koalition die leidigen Überhangmandate beseitigen können - denn sie sind eine der Ursachen des sogenannten negativen Stimmgewichts. Diese Chance hat sie verstreichen lassen.

Im Ringen um Europa war in letzter Zeit viel von Demokratie die Rede, doch im Schatten der Eurorettung bastelte die Regierungskoalition an einem ganz anderen Gesetz, das gleichsam das Betriebssystem der Demokratie bildet: Das Wahlrecht musste geändert werden, weil das Bundesverfassungsgericht dies so entschieden hat.

Eine Reform, die schon vor ihrer Verabschiedung am vergangenen Donnerstag ihren ersten Rechtsbruch hinter sich hatte: Die Koalition hatte es tatsächlich geschafft, die ungewöhnlich großzügige Dreijahresfrist der Verfassungsrichter verstreichen zu lassen. Wer dies für eine lässliche Sünde hält, müsste der Regierung jede Vorbildfunktion in Sachen Rechtstreue absprechen.

Dennoch könnte man darüber hinwegsehen, wenn wenigstens das Resultat zufriedenstellend wäre. Das aber ist es nicht. Politisch nicht, weil die Koalition mit der Praxis gebrochen hat, das Wahlrecht - also die gemeinsamen demokratischen Spielregeln - im Konsens zu beschließen. Und rechtlich nicht, weil die Opposition bereits eine Klage angekündigt hat, deren Aussichten gar nicht so schlecht sein dürften.

Dabei ist der eigentliche Anlass der Änderung noch das geringste Problem. Karlsruhe hatte 2008 das so genannte negative Stimmgewicht für verfassungswidrig erklärt. Dabei handelt es sich um einen paradoxen Effekt des Wahlrechts. In bestimmten Situationen kann es einer Partei nämlich schaden, wenn sie zu viele Zweitstimmen erhält. Das konnte man bei einer Nachwahl in Dresden im Jahr 2005 besichtigen. Die CDU musste damals unter 42.000 Stimmen bleiben - sonst hätte sie einen Sitz verloren. Mehr Sitze durch weniger Stimmen - das widerspricht dem Grundgesetz, entschied Karlsruhe.

Noch ist nicht wirklich klar, ob die Reparatur wirklich gelungen ist - die Opposition bestreitet dies. Wirklich ärgerlich ist aber Folgendes: Mit der Reform hätte die Koalition endlich die leidigen Überhangmandate beseitigen können - denn sie sind eine der Ursachen des negativen Stimmgewichts.

Diese Chance hat sie verstreichen lassen - und zwar aus reinem Machtegoismus: Denn derzeit würde wohl vor allem die Union von den Überhangmandaten profitieren. Sie entstehen dann, wenn eine Partei in einem Land mehr direkt gewählte Wahlkreiskandidaten in den Bundestag entsenden kann, als ihr nach ihrem Anteil an Zweitstimmen - also Parteistimmen - zustünden. Wahrscheinlich war die Union noch von ihrem Rekordergebnis des Jahres 2009 geblendet: Damals fuhr sie ganze 24 Überhangmandate ein - wofür sie rechnerisch 1,75 Millionen zusätzliche Zweitstimmen benötigt hätte.

In der frühen Bundesrepublik waren die Überhangmandate nur ein Randphänomen. Seit der Wiedervereinigung ist das Problem virulent geworden; 80 Überhangmandate zählt man seither. Und die Prognosen der Fachleute sagen eine weitere Steigerung voraus - auf 30, vielleicht auch 60 Überhangmandate bei einer einzigen Wahl.

Es ist also absehbar, dass sie irgendwann Wahl entscheidend sein werden. Das hieße: Eine Koalition darf mit der Mehrheit der Bundestagsmandate regieren, obwohl sie nur von einer Minderheit der Bürger gewählt wurde.
Überhangmandate verzerren den Willen des demokratischen Souveräns, das galt schon bisher. In einer vielfältiger gewordenen Parteienlandschaft, in der sich ihr Effekt multipliziert, werden sie zur unberechenbaren Roulettekugel: Sie entscheiden, ob Rot oder Schwarz gewinnt, vielleicht auch Grün. Dieses Kasinoprinzip ist einer Demokratie nicht würdig. Weshalb man nun erneut auf Karlsruhe hoffen muss. Eine Aussicht, die gar nicht so trübe ist: Schon 1997 hat das Gericht die Überhangmandate nur knapp gebilligt. Sollte der Bundestag zu mehr als fünf Prozent aus diesem "Überhang" bestehen, dürfte die Grenze zur Verfassungswidrigkeit überschritten sein, hieß es damals. Davon sind wir nicht mehr weit entfernt.